-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Warum sich Sozialkonflikte
nicht mehr politisch ausdrücken Poissy-Thesen Uns eint die Überzeugung von
der Zentralität der Arbeit. Desto größeres Kopfzerbrechen
macht uns die Krise der Arbeiterbewegung und der Niedergang der kommunistischen
und linkssozialistischen Parteien in der Wählergunst in einer Zeit
aufflammender Sozialkonflikte. Die bange Frage lautet: Wird es wieder
dazu kommen, dass die Konflikte, die sich an der Politik um Arbeit und
an Klassenfronten entzünden, einen politischen Ausdruck finden? Ohne
eine Reihe von Vermittlungen lässt sich die Frage nicht diskutieren.
Die erste betrifft Ausmaß und Reichweite präpolitischer Solidarisierungen
in der Arbeiterklasse. Erst eine solidarische Arbeiterbewegung trägt
eine eigene politische Repräsentation. Die eng damit zusammenhängende
Frage ist die nach der Identität bzw. genauer der Selbstidentifizierung
der Lohnarbeitenden. Wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass sich heute
nur noch ältere Arbeiter als gemeint erkennen, wenn von Arbeiterklasse
die Rede ist. Folglich haben wir nach den Ursachen der Desolidarisierung
zu fragen und, dem vorgeordnet, nach den Gründen des Schwindens subjektiv
realisierter Klassenidentität. Phänomene der Desolidarisierung unter den >Volksklassen< (classes
populaires) sind unübersehbar, auch wenn ihnen, zumal in Frankreich,
Beispiele frappierender interklassistischer Solidarität gegenüberstehen
oder, wie am 15. Februar 2003, momentan eine enorme weltweite Bewegung
gegen neoimperialistische Arroganz und Krieg auftritt. Viele Gründe
lassen sich für sie anführen. Deskriptiv wird von der Dominanz
der Mittelschichten oder der >moyennisation< gesprochen. Eine Sprache,
in der Durchschnitt >moyenne< heißt, kommt eher zu der >Evidenz<,
dass eine >moyennisation< Platz greift, als die Sprache der deutschen
Politik, die eher aristotelisch ist, weil es zu ihren selbstverständlichen
Wahrheiten gehört, dass die >Mitte< die Wahlen entscheidet.
In angloamerikanischer Diktion gar ist die >middle class< Bourgeoisie.
Der ideologisch nachdrücklich befestigte Eindruck der >moyennisation<
wirkt mit Macht und Erfolg darauf hin, die Klassen der Wahrnehmung zu
entziehen. Haben wir folglich zwar keine Klassen mehr, wohl aber Klassenkonflikte? Die vermittelten oder >abgeleiteten Formen< (Marx) bestimmen das
Geschehen auf der Vorderbühne. Verlassen wir das Proszenium, um der
destabilisierenden Dynamik auf die Spur zu kommen. Wenden wir den -- notgedrungen
spekulativen -- Blick auf die >Mutation des Produktionssystems<
(Bidou). Hier zeigt sich ein anderes Bild. Die Epoche krisenhaften Übergangs
zu einer neuen Produktionsweise, die wir nun schon seit Jahrzehnten durchleben,
hat vielfältige Erscheinungen >neuer Proletarität< (K.-H.Roth)
und Armut hervorgebracht. Reformistische Errungenschaften, welche die
Bedeutung der Klassenlage relativierten, unterliegen einem sozialpolitischen
roll back. Die Klassengrenzen werden markanter und z.T. undurchdringlicher.
Und dennoch machen sie sich politisch, als progressive Repräsentation
der Volksklassen auf der politischen Bühne, immer weniger geltend.
Verlassen wir also die Sphäre der Repräsentation und richten
unsere Aufmerksamkeit dorthin, wo die Sache selbst präsent ist, >in
die verborgne Stätte der Produktion, an deren Schwelle<, wie es
bei Marx so schön heißt, >zu lesen steht: No admittance
except on business< (MEW 23, 189). Hier ist es die Revolution der Produktivität der Arbeit umit ihren
umwälzenden Folgen, was uns interessieren muss -- auch wenn die Borniertheit
der theoretischen Dolmetscher des Kapitals dem hartnäckig die Frage
der Kapitalproduktivität unterschieben, mit dem Effekt, den Quantensprung
der Arbeitsproduktivität zu verdunkeln. Kursorisch: Auf die Revolutionen
der Energiegewinnung (von der Dampfmaschine und dem Verbrennungsmotor
zum Stromgenerator und Elektromotor), der Werkzeugmaschinerie und der
chemischen Prozesstechniken, mit all dem, was sie an Regel- und Steuerungstechniken
begleitete, folgte die Rechentechnik, die >informationelle Revolution<
(Boccara 1984; Lojkine 1992), die genauer als informationskapitalistische
Umwälzung zu bezeichnen wäre. Wenn wir uns mit Marx für
den >Zusammenhang von >Vermehrung der Produktivität der Arbeit,
Änderung der Produktionsweise< (MEW 26.3, 304) interessieren (und
für einen Moment den überallgemeinen Sprachgebrauch in der Nachfolge
von Althusser und Poulantzas vergessen, die ihn mehr oder weniger synonym
mit >Kapitalismus< verwenden, vgl. dazu Haug 2003, 31ff), kann man
sagen: Wir durchleben den Übergang von der fordistischen, vor allem
auf mechanisierter Massenproduktion am Fließband basierter Produktionsweise
zu einer Produktionsweise, deren Leitproduktivkraft der Computer ist. Leitproduktivkraft ist der Computer insofern, als er einer ganzen Gruppe
von Technologien zur Realisierung verholfen hat, deren Entwicklung und
Einsatz auf einer nach Menge und Geschwindigkeit in eine früher verschlossene
Dimension vorstoßenden Informationsverarbeitung basiert. Folgt man
der gebräuchlichen Diktion von der >High-Tech-Revolution< (vgl.
etwa Kreibich 1986) und nennt diese computerbasierten Technologien High-Tech-Produktivkräfte,
dann kann man Robert Castels im Poissy-Seminar geäußerte Bemerkung
über den >neuen Kapitalismus, ich weiß nicht, wie ich ihn
nennen soll<, mit der Formel >High-Tech-Kapitalismus< beantworten.
Der Begriff High-Tech-Kapitalismus hat den Vorteil, an die Alltagssprache
anzuknüpfen, zugleich den Kern des Neuen anzudeuten und die Frage
unumgehbar stellen: >Was für eine Gesellschaft würde die
klassen-antagonistische und neoimperialistische Nutzung der Computer und
des Ensembles der auf ihm basierenden Produktions-, Distributions-, Kultur-
und Kriegstechniken ergeben?< (Haug 2003, 11) Soviel scheint klar: Auf den fordistischen Stellungskrieg ist ein unklassischer
Bewegungskrieg gefolgt. Mit der organischen Zusammensetzung des Kapitals
ändert sich die Verteilung der Arbeiterklasse auf dem Erdball. Die
High-Tech-Revolution, die der Werkzeugmaschine und den Prozesstechnologien
die Rechenmaschine vorgeschaltet und übergeordnet hat, treibt eine
noch unabgeschlossene (horizontale wie vertikale, geschlechtliche wie
ethnische und nationale oder regionale) Umgruppierung im Dispositiv der
globalen Arbeitsteilung voran. Die Allokation der Arbeitsplätze folgt,
bei gewaltgesicherten Verwertungsbedingungen und geeignetem Markt- oder
wenigstens Verkehrsanschluss, dem Gefälle der Arbeitskosten. Wie
die Lachse im Gefälle der Flüsse hochsteigen, so das Kapital
im Profitgefälle, um seine >goldenen Eier< zu legen. Was die Subjekte und ihre möglichen Bewegungsformen betrifft, spaltet
das Feld sich auf über die unterschiedlichen Weisen, in denen das
Objektive ins Subjekte greift. Die Automation hat die monoton-repetitiven
Routinearbeiten marginalisiert. Automationsarbeit hatte sich in der Störungsprävention
zu bewähren bzw., um die Fähigkeit dazu auszubilden, im >Von-Hand-Fahren<
(vgl. PAQ 1987, 37f). Die Transformation der funktionalen Hierarchien
setzte die skalaren Hierarchien in Bewegung. Plötzlich sah sich ein
Heer von Aufsehern und Offizieren des Kapitals in >Vorgesetztenschrott<
verwandelt, wie ein Siemens-Manager zur Forschungsgruppe >Automation
und Qualifikation< gesagt hat. Bisher ihnen vorbehaltene dispositive
Kompetenzen, ja Momente von Unternehmertum waren in die Lohnarbeit eingewandert.
Diese Momente von Management, Gestion, haben sich inzwischen zu einer
früher kaum vorstellbaren >autogestion<, einem >selfmanagement<
der Subjekte verdichtet. Da sich an der Abhängigkeit und Fremdbestimmtheit
der Subjekte im Allgemeinen nichts geändert hat, lässt dieser
Zustand sich als Do-it-yourself-der-Entfremdung beschreiben. Solange die Bewegungsphase des Übergangs, das große Bäumlein-wechsel-dich
im Gange ist, wird tendenziell die Desolidarisierung überwiegen.
Gespielt wird ja das Spiel des >Lehrers Herrenreiter<, von dem in
Brechts Flüchtlingsgesprächen die Rede ist (GW 14, 1405): Bei
jedem Mobilitätsschub gelangen einige weiter nach oben, andere verschlechtern
sich, und insgesamt gibt es ein paar Plätze weniger. Solange Auf-
und Abstieg (>downsizing<), sich für eine Mehrheit wenigstens
annähernd die Waage halten, herrscht die Desolidarisierung. Stufen
des Abstiegs zumal für Ältere, die vom Qualifikationsprozess
überholt und dadurch relativ dequalifiziert worden sind, sind schlechter
bezahlte Jobs (downsizing), Prekarität, schließlich Langzeit-Arbeitslosigkeit.
Doch wie Hölle und Himmel in den Szenen vom Jüngsten Gericht
über den Kichentüren eingemeißelt sind, so überm
Tor zur Lohnarbeit eben nicht nur der Abstieg, sondern auch der Aufbruch-zu-neuen-Ufern,
aus dem jeder, solange er noch an sich glaubt und Hoffnung bewahrt hat,
eine Erwartung für sich zieht. Einzig Generalangriffe -- wie in Frankreich
und Österreich auf die Rente -- wirken rekollektivierend. Trifft
es dagegen nur eine relativ kleine Gruppe, wenden die anderen sich nach
dem Sankt-Florians-Prinzip ab, und die >Verlierer< bleiben mit Ressentiments
allein und treten den Rückzug in den privaten Atomismus an. Doch
die transitorische Mobilität produziert nicht nur >Verlierer<
und >Gewinner<, sondern vor allem Verlierer/Gewinner in ein und
derselben Person. Das Heer der abhängig Beschäftigten ist zusätzlich fragmentiert
durch Grade der Partizipation bzw. Nicht/Teilhabe am neuartig aggregierten
Intellekt der Gesellschaft, den die neue Kulturtechnik des Computers mehr
als alles andere verkörpert. Die In/Kompetenz-Hierarchie ist durch
die >digitale Kluft< verkompliziert und durcheinandergebracht worden.
Mehr als je zuvor setzt sich das In/Kompetenz-Gefüge in die Freizeit
und den Konsumbereich fort, die Grenze zwischen produktivem und konsumtivem
Gebrauch der Computeranwendungen verschwimmt, Toflers >Prosument<,
der >prod/user<, dringt vor. Die dadurch weiter vorangetriebene
und diversifizierte >plurale Identität< der Individuen relativiert
ihre Klassenlage weiter und trägt bei zu den >dérives identitaires<
(Lojkine), dem Auseinandertreiben der Identitäten, der Entkoppelung
von objektiver Klassenlage und subjektiv realisierter Identität. Angesichts der auf der Linken verbreiteten Ausblendung oder Marginalisierung
der Bedeutung der Produktionsweise fürs Verständnis der gegenwärtigen
Umwälzungsprozesse -- etwa im Umkreis der Regulationsschule oder,
politisch, bei Attac, wo das Interese fürs Finanzkapital gelegentlich
alles in seinen Bann schlägt und dadurch eine offene Flanke gegenüber
einem bestimmten Antisemitismus zu schaffen droht --, sei es wiederholt:
Der Ansatz vom Übergang der Produktionsweise her ist eine notwendige,
wenngleich nicht zureichende Bedingung für die Bearbeitung der Frage,
warum soziale Konflikte sich nun schon seit zwei, drei Jahrzehnten immer
weniger politisch ausdrücken. Sicher hat man, von diesem Ausgangspunkt
an die Fragen herangehend, nicht alles verstanden; doch ohne solches Herangehen
hat man gewiss alles nicht verstanden. Literatur Boccara, Paul, >Sur la révolution informationnelle<, in:
La Pensée, H. 241, Sept. 1984 Brecht, Bertolt, Gesammelte Werke, 20. Bde., Frankfurt/M 1967 Haug, Wolfgang Fritz, High-Tech-Kapitalismus. Analysen zu Produktionsweise,
Arbeit, Sexualität, Krieg und Hegemonie, Hamburg 2003 Kreibich, Rolf, Die High-Tech-Revolution, 1986 Lojkine, Jean, La révolution informationnelle, Paris 1992 Projekt Automation und Qualifikation (PAQ), Widersprüche der Automationsarbeit.
Ein Handbuch, Berlin 1987 [zurück] -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- |