Unterhaltungen über den Sozialismus nach seinem Verschwinden

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INKRIT
Unterhaltungen über den Sozialismus nach seinem Verschwinden

herausgegeben von Wolfgang Fritz Haug und Frigga Haug
unter Mitwirkung von Frank Deppe, Erhard Crome, Jutta Held, Wolfgang Küttler, Susanne Lettow, Peter von Oertzen, Lothar Peter, Jan Rehmann, Thomas Sablowski, Christoph Spehr, Jochen Steinhilber, Christoph Türcke und Frieder Otto Wolf
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Inhaltsverzeichnis:
Vorstellung der Gesprächsteilnehmer
Erste Unterhaltung
Vorverständigung
Erster Teil: Fragen der Methodik
Zweiter Teil: Der "Moderne"-Komplex

Zweite Unterhaltung
Vorverständigung
Erster Teil: Konfliktlinien
Zweiter Teil: Subjekte

Dritte Unterhaltung
Erster Teil: Nach dem 11. September
Zweiter Teil: Weltpolitische Perspektiven

Nachwort von Peter von Oertzen

Vorwort

I.
Wie passen ernsthafte Unterhaltungen in eine Zeit, für die Unterhaltungsspaß fast alles ist und von der Neil Postman meinen konnte, sie werde sich noch "zu Tode amüsieren"? Nicht alle werden die folgenden Unterhaltungen, in die gelegentlich Bruchstücke aus Vorlesungen einzufließen scheinen, in jedem Moment unterhaltend finden. Manche, die gewohnt sind, dass ihnen schnelle Abwechslung und scharfe Reize oder, falls sie konkret-LeserInnen sind, eindeutige Feindbilder und verbale Prügeleien geboten werden, könnten ungeduldig werden. Hier herrscht selbstkritische Nachdenklichkeit. Hier fetzt man sich nicht, sondern zweifelt sich durch, versucht mit- und gegeneinander, auf dem Boden des Wirklichen das Wünschbare mit dem Möglichen zusammenzubringen.
Da aber die in den Unterhaltungen durchgesprochenen Existenzfragen praktisch von den Jüngeren entschieden werden und deren Ungeduld unentbehrlich ist, sobald sie den langen Atem aufbringt, lassen wir vorab Bertolt Brecht für uns sprechen Die kleine Geschichte, die von der nötigen Geduld derer handeln könnte, die heute mit großer Ungeduld auf soziale Ungerechtigkeit, Kriegspolitik und Umweltzerstörung blicken, ist überschrieben: "Tu will kämpfen lernen und lernt sitzen" (Ges. Werke, Bd. 12, 576):
Tu kam zu Me-ti und sagte: Ich will am Kampf der Klassen teilnehmen. Lehre mich. Me-ti sagte: Setz dich. Tu setzte sich und fragte: Wie soll ich kämpfen? Me-ti lachte und sagte: Sitzt du gut? Ich weiß nicht, sagte Tu erstaunt, wie soll ich anders sitzen? Me-ti erklärte es ihm. Aber, sagte Tu ungeduldig, ich bin nicht gekommen, sitzen zu lernen. Ich weiß, du willst kämpfen lernen, sagte Me-ti geduldig, aber dazu musst du gut sitzen, da wir jetzt eben sitzen und sitzend lernen wollen. Tu sagte: Wenn man immer danach strebt, die bequemste Lage einzunehmen und aus dem Bestehenden das Beste herauszuholen, kurz, wenn man nach Genuss strebt, wie sollte man da kämpfen? Me-ti sagte: Wenn man nicht nach Genuss strebt, nicht das Beste aus dem Bestehenden herausholen will und nicht die beste Lage einnehmen will, warum sollte man da kämpfen?
Beginnen wir damit, Geschichte und Sinn unseres Versuchs zu erzählen!

II.
Im Sommer des Jahres 2000, dann im Frühling des folgenden Jahres, zuletzt ein Jahr später, im Frühling des Jahres 2002, trafen sich einige linke Intellektuelle aus West- und Ostdeutschland, um -- nach dem Scheitern des Staatssozialismus und angesichts der Umwälzung aller gesellschaftlichen Lebenssphären im neoliberalen und hochtechnologischen Weltkapitalismus -- die Fragen nach Perspektiven und Subjekten von Sozialismus neu aufzunehmen.
Eingeladen hatte das Berliner Institut für Kritische Theorie (InkriT). Gegründet wurde es 1996 als gemeinnützige Einrichtung mit dem Hauptziel, die Arbeit am Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus dauerhaft zu ermöglichen. Später kam die Betreuung der kritischen Gramsci-Ausgabe dazu. Zudem organisiert das Inkrit jedes Jahr eine mehrtägige internationale Konferenz, bei der die historisch-kritische Arbeit an Themen des Wörterbuchs mit der Diskussion über aktuelle politisch-theoretische Probleme verbunden wird. -- Einige der Teilnehmer der Sozialismusgespräche gehören zum Kuratorium des InkriT, andere zu den Autoren des Wörterbuchs.
Den Anlass für die Einberufung der Gesprächsrunde bildete die PDS-Programmdebatte. In den zehn Jahren seit dem Fall der Mauer hatte sich herausgestellt, dass die PDS nicht, wie manche angenommen hatten, eine kurzlebige Übergangserscheinung war. Die Sozialdemokratie zielte auf eine "neue Mitte" und räumte linke Positionen, ein Vakuum zurücklassend, das die PDS allmählich auszufüllen begann. War es möglich, dass aus einer zunächst mehr oder weniger regionalpolitischen und "postkommunistischen" Kraft Ostdeutschlands längerfristig eine gesamtdeutsche linkssozialistische Partei werden könnte? Voraussetzung war eine glaubwürdige historisch-kritische Auseinandersetzung mit kommunistischer Politik im 20. Jahrhundert und ein Maßnehmen an den veränderten Bedingungen des sich in Krisen und Kriegen transnational reorganisierenden Kapitalismus. Neu auszufüllen war die Spannweite zwischen konkreter Politikfähigkeit und der Vision einer Gesellschaft, in der "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die Entwicklung aller" wäre, wie es bei Marx heißt (MEW 4, 482).

III.
"Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme", schrieb Karl Marx, um sodann zur sorgfältigen Kritik am Gothaer Programm zu schreiten. Während der knapp drei Jahre, auf die sich die drei Gesprächsrunden verteilen, hat sich die PDS-Programmdebatte in vielstimmigem Für und Wider und in mehreren "Generationen" von Entwürfen und Gegenentwürfen entfaltet, in die zuletzt auch einige Impulse aus den vorliegenden Gesprächen eingeflossen sind. Dies ist im Auge zu behalten, wenn in den Unterhaltungen immer wieder kritisch auf Entwürfe Bezug genommen wird. Tucholsky, der unter mehreren Pseudonymen schrieb, betitelte einen fingierten Leserbrief an eine seiner Masken mit dem sprichwörtlich gewordenen Ausspruch: "Wo bleibt das Positive, Herr Panther?" Ähnliches mögen die unmittelbaren Adressaten dieser Kritik empfinden, zumal diejenigen, die bereits viel Arbeit in die Programmdiskussion investiert haben. Daher sei vorausgeschickt, dass die an den Gesprächen Beteiligten, von denen niemand der PDS angehört, zumindest einige entscheidende Voraussetzungen und Grundzüge der Programmdiskussion befürworten. Anders hätten sie der Einladung des InkriT nicht Folge geleistet.
Sprechen wir es also aus: Es scheint uns goldrichtig, die Spannung zwischen utopisch anmutender Vision und tatsächlicher Politikfähigkeit (d.h. auch Koalitionsfähigkeit) produktiv zu machen und auf keinen Fall den einen Pol dem anderen zu opfern. Wir finden es richtig, für die Gegenwart das zu aktualisieren, was Rosa Luxemburg einst "revolutionäre Realpolitik" genannt hat und was in der Sprache der westdeutschen Jungsozialisten "systemüberwindende Reformen" hieß - auch wenn die Worte heute andere sein mögen. Angesichts der Tatsache, dass der vom Kommunistischen Manifest vorauseilend beschriebenen Vollendung des kapitalistischen Weltmarkts heute unter dem Deckwort "Globalisierung" täglich mehr Realität zuwächst, halten wir es für geboten, keinen Moment die Augen davor zu verschließen, dass wir im Kapitalismus leben und dass ohne kritische Theorie des Kapitalismus noch nicht einmal liberale Demokratie, geschweige denn sozial-ökonomische und ökologische Reformpolitiken realitätstüchtig betrieben werden können. Dies ist ein Stolperstein für so manche Schönredner.
Programme sind der verschönerte Schatten dessen, was die Parteien wirklich tun, wenn sie mitregieren. "Denn das Wort ist der Schatten des Werks", heißt es bei schon Demokrit (Frg. 145). Nicht schöne Ziele und lockende Versprechen können darüber entscheiden, ob man einer Partei über den Weg traut. Von der Werbung lernend behandeln die meisten Parteien die Wähler wie unheilbar kranke Konsumenten, denen man die Wahrheit verschweigen muss, wie ungesund ihr Konsumismus für die Welt und sie selbst ist. Eine Partei, die sich als "Partei der gerechten Globalisierung" vorstellt und über den transnationalen Kapitalismus und seine imperialen Herrschafts- und Kräfteverhältnisse schweigt oder die erklärt, dem Krieg gegen Jugoslawien zugestimmt und dennoch am Ziel der Gewaltfreiheit festgehalten zu haben, kann nicht erwarten, dass man ihr glaubt. Wenn Worte sich derart über alle Taten hinwegsetzen können, deren Unähnlichkeit mit zuvor Gesagtem immer mit den Sachzwängen realer Politik begründet werden kann, ist es offenbar notwendig, die den verkündeten Zielen entgegenstehenden Interessen und Strukturen vorab in aller Klarheit zu analysieren. Wie radikal müsste eine Partei die heutige Welt verändern oder zumindest verändern wollen, um von sich sagen zu dürfen, sie sei die Partei der sozialen Globalisierung. Sinnvolle Ziele und Versprechungen müssen eingebettet sein in eine Abschätzung der zu erwartenden Konflikte und Zerreißproben. Wer den real existierenden Kapitalismus ausblendet, täuscht systemimmanente Lösungen vor, wo systemtranszendierende Schritte gefragt wären. Die Täuschungen von heute sind aber die Enttäuschungen von morgen.
Richtig finden wir es im Gegenzug aber auch, den Antikapitalismus durch den Filter der Erfahrungen zu schicken, die im 20. Jahrhundert mit ihm gemacht worden sind. Wir anerkennen, dass mit dem Programm versucht wird, die Lehren aus der geschichtlichen Katastrophe zu ziehen, zu der die - unterm Einfluss des Imperialismus und seiner Weltkriege zustande gekommene - historische Scheidung von Kommunismus und Demokratie geführt hat. Rosa Luxemburgs "Kein Sozialismus ohne Demokratie, keine Demokratie ohne Sozialismus" ist die geeignete Richtlinie hierfür. "Luxemburgismus" also ist angesagt, aber ohne den Mythos vom "Letzten Gefecht" und ohne ökonomistische Verkürzung. Auch uns scheint es richtig, rechtsstaatliche Verhältnisse parlamentarischer Demokratie mit der Achtung vor den Menschenrechten und dem Schutz von Minderheiten fundamental zu bejahen. Wir sehen aber auch die tiefen demokratischen Defizite dieser Verhältnisse in ihrer aktuellen Gestalt und halten es daher für notwendig, den Ausbau, die weitere Demokratisierung und demokratische Ergänzung dieser Errungenschaften der bürgerlichen Revolutionen ins Programm zu schreiben. Richtungsweisend scheint uns der kategorische Imperativ, die Veränderung aller Verhältnisse anzustreben, in denen Menschen aufgrund ihrer Klassenlage oder 'Rasse', ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung, ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion (soweit diese nicht die Prinzipien der Rechtstaatlichkeit, der Gewaltfreiheit und der Demokratie negiert) benachteiligt oder verfolgt, unterdrückt und gedemütigt werden. Richtungsweisend ist schließlich das marxsche Postulat, dass keine Klasse, keine Nation, noch nicht einmal alle Nationen zusammen das Recht haben, sich als Eigentümer der Erde, der Lebensgrundlage der heutigen und künftigen Menschen aufzuführen; sie sind nur die vorübergehenden Besitzer, die die Pflicht haben, sie den kommenden Generationen verbessert zu hinterlassen.
Anders als Marx dachte, ist die Einlösung all dieser Sätze heute in utopische Ferne gerückt. Angesichts der Verhältnisse scheint es wachsamen Beobachtern, dass die liberale Demokratie in ihren westlichen Stammländern noch nie so gefährdet war wie heute (Derrida) und dass insgesamt das Überleben der Menschheit selbst zur Utopie geworden sei (Biedenkopf).
Die Programmtexte überzeugen uns dort am meisten, wo der Widerspruch zwischen den Potenzialen der technisch-zivilisatorischen Entwicklung im Kapitalismus und ihrer Fesselung, ja Umlenkung ins Destruktive analysiert wird. Erhellend ist die Erinnerung an das schon von Marx gesehene Paradox, dass der entfesselte Profitmechanismus jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger gehen lässt. Jede Erfindung, die Arbeit erleichtert oder einspart, vernichtet Arbeitsplätze, und jede Entdeckung, die Naturprozesse menschlichem Zugriff ausliefert, liefert Menschen und ihre Lebensbedingungen der Herrschaft anderer Menschen aus. Ein linkes Programm tut gut daran, die gesteigerten Gestalten dieses Paradoxes für die Gegenwart klar zu benennen und entsprechende Forderungen - etwa nach sozialer und ökologischer Bindung von Eigentum, Wissenschaft und Technik oder nach Schaffung der Bedingungen für lebenslanges Lernen tendenziell aller - klar in die Analyse einzubetten.
Anders aber als in den bisherigen Entwürfen sollten solche Gesichtspunkte der Spannung und Widersprüchlichkeit strukturbildend genutzt, nicht nur beiläufig eingestreut werden. Dass die einzelnen Antworten auf Existenzfragen der Menschheit noch in keine überzeugende Reformalternative eingebunden sind, sollte ausgestellt und mit der durchgängigen Einbeziehung der Adressaten verknüpft werden. Versprechungen, die durch keine noch so revolutionäre Realpolitik eingelöst werden könnten, haben kein Recht. Illusionismus und spätere Abspaltungen sind die Folge, wenn man im politischen Nahbereich Forderungen aufstellt, bei denen die Rechnung völlig ohne die Weltwirtschaft gemacht (und zur Vorsicht auch gar nicht erst aufgemacht) wird.
Im Gegensatz zu früheren Programmen der Arbeiterbewegung können wir im gegenwärtigen geschichtlichen Moment nicht mehr -- bzw. noch nicht wieder, auf andere, heute noch ungekannte Weise -- verkünden, wie ein sozialistischer Umbau des sozio-ökonomischen Systems im Ganzen aussehen und geschehen könnte. Die aus der Oktoberrevolution hervorgegangene und dem Stalinismus anheimgefallene Welt liegt in Trümmern, die stalinistische Erfahrung verlangt einen radikal neuen Ansatz. Die sozialdemokratische Linie, die in der Epoche des Fordismus und der Systemkonkurrenz nach dem Zweiten Weltkrieg im sozialen Wohlfahrtsstaat aufging und ihre marxistischen und sozialistischen Einsichten und Orientierungen preisgab, ist von der Krise des Fordismus getroffen worden und hat sich nach diesem "Ende des sozialdemokratischen Zeitalters" zu einer dem Neoliberalismus verpflichteten Politik der "neuen Mitte" gewendet. Die mit dieser Politik verbundenen Erfahrungen drohen nun aber Wähler in Massen zur populistischen Rechten hinzutreiben. Eine demokratisch erneuerte sozialistische Politik wird versuchen, die links von der SPD ohne politische Vertretung zurückgelassenen Wähler zu gewinnen. Eine radikale Überwindung der historischen Scheidung von Kommunismus und Demokratie auf der einen Seite, auf der anderen eine Rückgewinnung der Perspektive solidarischer Vergesellschaftung jenseits des Kapitalismus, die nicht auf konkrete Reformpolitik hier und jetzt verzichtet, bestimmen den Horizont einer neuen sozialistischen Programmatik an der Schwelle des 21. Jahrhunderts. Noch gibt es kein neues alternatives Modell sozialistischer Vergesellschaftung. Nicht Abschaffung des Kapitalismus steht in absehbarer Zeit auf der Tagesordnung, sondern der Kampf um die soziale und demokratische Regulierung des Kapitalismus und um die Verteidigung und Ausdehnung kapitalismusfreier Bereiche.
Das heißt aber nicht, dass Theorie und Kritik des Kapitalismus ihre Bedeutung verlören. Im Gegenteil! Es kann sich herausstellen, dass die soziale und demokratische Regulierung des Kapitalismus angesichts der Kräfteverhältnisse fast so utopisch ist wie seine Abschaffung. Wer wähnt, den Tiger reiten zu können, sollte den Tiger zunächst studieren. Die Erfahrung lehrt auf jeden Fall, dass reformistischer Kampf zur perspektivlosen Anpassung verkommt, wenn er seinen utopischen Horizont aus dem Blick verliert. Nahziele brauchen Fernziele zur Orientierung. Und sie brauchen Handlungsformen, in denen etwas von der utopischen Ferne freier und solidarischer Vergesellschaftung lebenspraktisch bereits jetzt verwirklicht wird.
Einen anderen als den demokratischen Sozialismus kann es nach der stalinistischen Erfahrung nicht mehr geben. Otto Bauers Forderung nach einem integralen Sozialismus, die unterm Stalinismus und in der Aufmarschordnung des Zweiten Weltkrieges keine Chance hatte, ist heute die einzig realistische. Dabei wissen demokratische Sozialisten, dass sie keinen Alleinverstretungsanspruch erheben können. Die Politik eines integralen Sozialismus und der Aufhebung der überkommenen Spaltungen kann sich heute einzig in pluraler Form entfalten. Nicht ein kommandierendes Zentrum, sondern ein Netzwerk, in das sich Initiativen einbringen können, bietet den angemessenen Praxisrahmen. Freilich muss eine Partei auch vereinheitlichen, um sich nicht selbst aufzugeben. Doch muss sie akzeptieren, dass sie nicht die einzige vereinheitlichende Kraft ist, sondern im gleichberechtigten Nebeneinander mit anderen diese Funktion immer neu durch Bündelung der widersprüchlichen Impulse zu erarbeiten hat.
Für die Struktur der Programmatik besagt dies: Nicht eine standardisierte Massenlinie ist anzustreben, kein homogenes "Flächenkonzept" des Politischen, sondern eher ein Netzwerk, das der Pluralität sozialer und kultureller Bewegungen, die in emanzipatorischer Perspektive wirken, gerecht wird.
Die große Ernüchterung, aus der sozialistische Erneuerung sich heute einzig erheben kann, ist eine historische Chance. Doch in der geschichtlichen Situation lauert zugleich die Gefahr, dass die berechtigte Forderung nach gegenwärtiger Politikfähigkeit alles, was darüber hinaustendiert, überwältigt. Der notwendige Pragmatismus im Dienste der Tagespolitik droht, sich an die Stelle der Fernziele zu setzen. Damit verlöre eine demokratisch-sozialistische Partei ihr Existenzrecht. An Fernzielen festhalten und ihnen schon jetzt Stützpunkte in der Wirklichkeit zu schaffen ist deshalb "Realpolitik" auf der Ebene der Identitätsfindung, des Existenzerhalts und der weiteren Ausstrahlung einer sozialistischen Partei.
Das wichtigste Fernziel, das Zusammenleben von Menschen betreffend, ist die Verknüpfung von Solidarität mit Freiheit, wie sie im Manifest formuliert ist. Das Ziel im Blick auf die gesellschaftlichen Naturverhältnisse aber ist es, den "Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde [...] systematisch als regelndes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion und in einer der vollen menschlichen Entwicklung adäquaten Form herzustellen" (Marx, MEW 23, 528). Beide Ziele überschreiten die Schranken kapitalistischer Vergesellschaftung.
Der Kontext, dem diese Orientierungen entspringen, sind Verhältnisse, die ihren Mangel produzieren, Gewaltverhältnisse, Verhältnisse der Desolidarisierung, der Ausschließung, des zerstörerischen Ressourcenverbrauchs, des Wechselspiels von antiimperialem Terror und Staatsterrorismus, zuletzt des von den USA erklärten diffusen und zeitlich unbegrenzten "Weltkriegs gegen den Terror".

IV.
Seit dem Zusammenbruch des europäischen Staatssozialismus sowjetischen Typs und der nationalen Befreiungs- und Entwicklungsregime herrscht in geschichtlich beispiellosem Grad weltweit der Kapitalismus. Die von den kapitalistischen Zentren ausgehende neoliberale Politik verfolgt rücksichtslos die Ziele der "Marktinteressenten", das heißt der transnationalen Konzerne, die bei entgrenzter Konkurrenz überall die weniger entwickelten Ökonomien durchdringen und sich unterordnen. Die trinitarische Formel des Neoliberalismus lautet "Freihandel - Privatisierung - Deregulierung". Das gesellschaftliche Leben tendiert in allen Bereichen dazu, mit der Unterordnung unter den Weltmarkt zur totalen Marktwelt zu werden. Dies ist der Sinn der neoliberal betriebenen Globalisierung von oben. Sie entfesselt die Konkurrenz der Menschen im Innern der Gesellschaften, die sie in Gewinner und Verlierer spaltet. Sie tut dies erst recht im Weltmaßstab. Sie bereichert die Reichen und verarmt die Armen. Ihre über den Weltmarkt wirkenden Mächte kennen keine demokratische Kontrolle, keine entsprechende soziale, politische und rechtliche Rahmung, keine Instanz, die die Kapitalakteure zur Verantwortung ziehen oder ihre Geschäftspolitiken in entwicklungspolitische und zivile Grenzen zwingen könnte. Sie hat den Krieg wieder normalisiert und die Durchsetzung nationaler und transnationaler Interessen remilitarisiert. Sie hat damit die klassischen marxschen und marxistischen Analysen der Verhältnisse, die im "sozialdemokratischen Zeitalter" von der Wirklichkeit überholt und veraltet schienen, in den Rang maßvoller Beschreibungen des realexistierenden Kapitalismus zurückversetzt.
Den epochalen Umbrüchen in der "politischen Wolkenregion" der Staatenwelt und der internationalen Weltordnung am Ende des 20. Jahrhunderts liegt ein Umbruch der kapitalistischen Produktionsweise zu Grunde, der oft verschleiernd als "Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft" bezeichnet wird. Um den Computer als Universalinstrument gruppieren sich hochtechnologische Produktivkräfte. Fließbandarbeit und standardisierte Massenproduktion haben weithin der flexiblen Automatisierung Platz gemacht. Die "organische Zusammensetzung" des Gesamtarbeiters hat sich mehrfach verschoben: in seiner Verteilung auf dem Erdball; in der Positionierung der beiden Geschlechter zueinander; in der "Ethnisierung" von Klassenspaltungen; nicht zuletzt im Verhältnis von "körperlicher zu "geistiger" Arbeit. In den kapitalistischen Zentren dringen "wissensbasierte Arbeitsformen" und "Dienstleistungen" vor - zugleich breiten sich Niedriglohnverhältnisse und Massenarbeitslosigkeit aus.
Unterdessen vollzieht sich in den "Schwellenländern" eine Proletarisierung, oft unter Bedingungen eines "wilden Kapitalismus" mit seinem Regime der "Sweatshops" oder "Maquiladoras". Das ist wiederum eine widersprüchliche Entwicklung: In den patriarchalen Agrargesellschaften werden vor allem junge Frauen in industrielle Prozesse eingesaugt, was als "Feminisierung" der Arbeit bezeichnet worden ist. Bei allen negativen Aspekten ist die Proletarisierung der Frauen für diese zugleich ein erster Schritt aus patriarchaler Bevormundung in die eher "selbstbestimmte Entfremdung" der Lohnarbeit und womöglich gewerkschaftliche Zusammenschlüsse. Die männliche Bevölkerung aber verarmt weiter und wird, wo sie nicht von "Gewaltmärkten" absorbiert wird, in den Kreislauf der stets wachsenden Weltmigration hineingezogen.
Da auch die transnationalen Kapitale der billigeren Arbeitskraft "entgegen-migrieren", wirkt die Existenz von Drittweltländern verschärfend auf die Lage der Lohnabhängigen und Erwerbslosen in den Industrieländern und treibt sie in die Arme populistischer Demagogen. Neoliberale Globalisierungspolitik reproduziert wachsende "Drittweltsektoren" inmitten der Reichtumszentren.
Heute zu neuen Formen der Solidarisierung der Arbeitenden der Welt aufzurufen klingt anachronistisch angesichts der Ideologien vom "Ende der Arbeitsgesellschaft" oder gar vom "definitiven Ende" der Arbeit als solcher (Kurz). Und doch ist Rekonstituierung der Solidarität über alle Fraktionierungen der arbeitenden Klassen hinweg die einzig realistische Schlussfolgerung angesichts einer Globalisierung des Marktes, die tiefe Spaltungen unter ihnen hervorbringt - bis zur Entstehung eines neuen "Arbeitshelotentums".

V.
Wir sind welthistorisch Ernüchterte. Unsere Hände sind leer, was eine realisierbare und mehrheitsfähige Systemalternative angeht. Eher rufen wir all diejenigen zu gemeinsamem Handeln, die wie wir mit Walter Benjamin einsehen: "Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe." Mit diesen Einschränkungen können wir sagen: Wir treten ein für eine demokratisch-soziale und ökologische Wende auf Grundlage der hochtechnologischen Möglichkeiten.
Es kann aber nicht Sache einer externen Politikberatung sein, konkrete Politiken einer Partei zu entwerfen oder sich in Einzelheiten zu verlieren. Wohl hat sie die epochalen Veränderungen und neuen Bedingungen zu benennen, auf die ein Parteiprogramm zu Beginn des 21. Jahrhunderts antworten muss. Sie kann Kriterien vorschlagen und die Vor- und Nachteile bestimmter Herangehensweisen erörtern. Sie wird also einen stark methodologischen Akzent tragen und sich zugleich um Verständigung über die Determinanten der Gegenwart und die aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts überkommenen Erfahrungen bemühen. Sie wird abzuschätzen versuchen, welche Zerreißproben auf die Gesellschaft und auch auf die Linke selbst zukommen. Sie wird die progressiv-widerständigen Bewegungen der Gegenwart unter dem Gesichtspunkt mustern, zu welchen beispielhaften Protest-, Bewegungs- und Gegenöffentlichkeitsformen hin eine erneuerte sozialistische Programmatik anschlussfähig sein muss und welches ihre Akteure sein können.

VI.
Es ist uns bewusst, dass unabhängige Politikberatung immer riskiert, von den unmittelbaren Adressaten in den Wind geschlagen zu werden. Es ist nicht auszuschließen, dass die weitere Entwicklung der PDS in Richtung "Regierungsfähigkeit" auf Kosten der notwendigen Radikalität der Analyse und der Zielsetzungen geht. Wenn wir hier die Sozialismusgespräche des InkriT der Öffentlichkeit übergeben, so deshalb, weil wir sie so angelegt haben, dass sie über Anlass und Moment, auch über die Landesgrenzen hinaus ein Dokument des Nachdenkens und der Orientierung darstellen. Sie versuchen etwas, das in einer epochalen Umbruchssituation ebenso notwendig wie schwierig ist.
Die Mitwirkenden kommen aus verschiedenen Generationen und unterschiedlichen linken Traditionen. Sie verständigen sich über Bedingungen und Möglichkeiten linker Politik heute und in naher Zukunft. Alle Beteiligten begreifen den Spagat zwischen Fernzielen und jetziger Politikfähigkeit als entscheidende Identitätsressource linkssozialistischer Parteipolitik, sehen aber auch die zerreißenden Widersprüche, die darin enthalten sind. Vor allem wollen sie alle, dass die geschichtliche Chance wahrgenommen wird, in Deutschland langfristig eine sozialische Linkspartei zu verankern. Sie sehen, dass sie diese Chance den Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern verdanken. Sie sehen aber auch, dass die Realisierung dieser Chance sich auf längere Frist in den westlichen Bundesländern entscheidet. Dort aber gibt es ein, wie die Zahlen zeigen, zögerndes Potenzial links von der SPD, das mit Elefantengedächtnis an den geschichtlichen Erfahrungen haftet. Wenn diese Menschen begründet darauf vertrauen können, dass eine linke Partei sich im Feld einer vielstimmig entfalteten Rationalität zu bewegen gelernt hat, werden sie den entscheidenden Schritt auf sie zutun. In der PDS ist oft davon die Rede, es komme darauf an, "in der Gesellschaft anzukommen". Wenn überhaupt, dann findet dies in der Form statt, dass wachsende Teile der Gesellschaft sich selbst auf die PDS zubewegen.
Die Form der Gespräche oder philosophischen Unterhaltungen, die seit der Antike immer wieder dazu genutzt worden ist, ein Problemfeld zu durchmessen oder Auffassungen argumentierend zu entwickeln, erwies sich als besonders geeignet, die Vielfalt der Aspekte und Positionen mit der nötigen Einheit des Argumentationszusammenhangs zu verbinden. Manchmal kommt die Fiktion der Realität näher als diese sich selbst. Bearbeitung und nachträgliche Einfügungen haben den Text der ersten beiden Runden verändert, und das dritte Gespräch ist gänzlich "virtuell", übers Internet, geführt worden.
Als sich die Idee herauskristallisierte, die Gespräche noch rechtzeitig vor den Bundestagswahlen vom September 2002 als Taschenbuch herauszubringen, war es für die verlegerischen Planungsfristen längst zu spät. Also musste improvisiert werden. Desto mehr ist den Verlagen zu danken, die sich gleichwohl bereitgefunden haben, der für die Verbreitung dieses Büchleins unterm Dach des InkriT gebildeten Verlagsgemeinschaft beizutreten. Zu danken ist auch Bernd Ihme für vielfältige technische und organisatorische Hilfe.

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